Gedenkstunde anlässlich des Novemberpogrom

Seit 2009 wird regelmäßig durch den Verein "Servitengasse1938" mit einer Veranstaltung zum Novemberpogrom vor dem Gedenksymbol "Schlüssel gegen das Vergessen" Ecke Servitengasse / Grünentorgasse an die Ereignisse der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 erinnert.

Dabei handelte es sich um leise Veranstaltungen. Hauptteil ist jedes Jahr unter dem Motto der Inschrift am Gedenksymbol - "Im Gedenken an die als Juden und Jüdinnen Vertriebenen und Ermordeten, die in der Servitengasse wohnten, Geschäfte führten oder Häuser besaßen" das Verlesen der Namen der Shoah-Opfer aus der Servitengasse. 462 Namen aus 24 Häuser, gelesen von 24 Freiwilligen aus der Gruppe der Anwesenden, dokumentieren die großen Lücken, die ab den Novemberpogromen in die Bewohnerschaft der kleinen Gasse geschlagen wurden.

Die namentliche Erinnerung an die Opfer wird musikalisch eingerahmt und mit dem Verlesen von Texten im Zusammenhang mit dem Novemberpogrom geteilt. 2019 wurde zum Beispiel ein Ausschnitt aus dem Tagebuch des Moritz Lichtmanns, Uhrmacher in der Servitengasse 6 bis zum Morgen des 10. Novembers 1938, verlesen. Mehrfach zu Gehör gebracht wurde auch schon die Zusammenstellung von Eintragungen im Wiener Brandbuch, wie sie unten zu finden ist.

Gelegentlich werden auch zusätzliche Inhalte eingebunden, wie 2013 eine Intervention, um auf die prekäre Lage der Flüchtlinge aufmerksam zu machen oder 2018 die Erstbeleuchtung der Stele OT in der Müllnergasse. Diese Stelen erinnern seit 9. November 2018 in ganz Wien an die Plätze, wo 1938 Synagogen zerstört wurden.

 

Eine Nacht und ein Tag in Wien

In Gedenken an das November Pogrom 1938

9. November 1938
21:00 - erhält Hitler die Nachricht vom Tod Ernst von Raths.
21:50 - lässt Goebbels den Gauleiter von Wien, Odilo Globocnik, anweisen, "dass Aktionen größten Stils mit vollkommen freier Hand für Jedermann gegen Juden einzutreten haben ...".
22:00 - hält Goebbels eine antisemitische Hetzrede in München.
22:30 - geben die Gauleiter telefonische Anweisungen zur Aktion an die Kreisleiter mit dem Befehl, diese an die Ortsgruppen weiterzuleiten.
23:00-24:00 - Die SA-Gruppenführer geben Aktions-Befehle an ihre Dienstellen, die diese an die SA-Stürmer weiterleiten.
23:55 - Fernschreiben des Gestapo-Chefs Heinrich Müller an alle Stapo-Stellen mit der Anweisung, Aktionen gegen Synagogen nicht zu unterbinden, jedoch das jeweilige Archivmaterial sicherzustellen und gegen Plünderungen und Ausschreitungen vorzugehen.
24:00 - Vereidigung der SS Am Hof in Wien I.

10. November 1938
01:20 - Fernschreiben Heydrichs an alle Stapo- und SD-Stellen mit der Weisung, sich mit den jeweiligen Gau- und Kreisleitungen in Verbindung zu setzen, um die "Demonstrationen" abzuklären. Weiters wird Anweisung gegeben, "so viele Juden - insbesondere wohlhabende - festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können", vorerst vor allem "gesunde männliche Juden". "Nach Durchführung der Festnahmen ist unverzueglich mit den zuständigen Konzentrationslagern wegen schnellster Unterbringung der Juden in den Lagern Verbindung aufzunehmen."
01:30-02:30 - Die SS-Oberabschnittsführer leiten pro forma-Weisungen weiter, wie Gestapo und Polizei die Juden zu schützen habe.
02:45 - lässt Goebbels an alle Reichspolizeiämter telegrafieren: "es finden morgen im ganzen reich in sehr grossem umfange verhaftungen von juden statt. diese verhaftungen werden ausschließlich durch die polizei getaetigt."
02:56 - ergeht Befehl an alle Gauleitungen, dass "Brandlegungen an jüdischen Geschäften ... auf gar keinen Fall und unter gar keinen Umständen erfolgen" dürfen.
03:00 - wird der SD eingesetzt, um die staatspolizeilichen Maßnahmen zu unterstützen, und um das Material der Kultusgemeinde sicher zu stellen.
04:00 - Die österreichische SS erhält Befehl, die Wiener Synagogen zu demolieren.
04:15 - Die Schutzpolizei erhält den Befehl, "kriminelle Handlungen" zu unterbinden.
06:00 - wird die Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde, Tempelgasse 5, in Wien II von der Gestapo beschlagnahmt.
06:00 - ist das Bethaus Thelemangasse 8 in Wien XVII zerstört.
06:45 - ist die Synagoge Grünentorgasse 13/Müllnergasse 21 in Wien IX zerstört.
07:00 - wird die Synagoge Kluckygasse 11 in Wien XX geplündert; die silbernen Kultgegenstände nimmt die Gestapo mit, die synagogalen Textilien werden vernichtet.
ab 08:00 - werden in Wien 4.038 Geschäfte jüdischer Inhaber geschlossen, versiegelt, zu einem guten Teil demoliert und geplündert.
08:00-16:00 werden 6547 Wiener Juden festgenommen und in Sammelstellen überführt; von ihnen sterben an einige an "Herzschwäche", durch Schädelbruch oder durch Kopfschuss.
09:00 - ist die Synagoge Dollinergasse 3 in Wien XIX niedergerissen.
09:15 - brennt die Inneneinrichtung des Bethauses Schiffamtsgasse 5 in Wien II.
09:35 - ist der Tempel Neue Weltgasse 7 in Wien XIII ausgebrannt.
10:02 - ist der Tempel Tempelgasse 3 in Wien II ausgebrannt.
10:12 - brennt das Innere der Synagoge Stumpergasse 42 in Wien VI.
10:20 - ist die Synagoge Humboldtplatz in Wien X gesprengt.
10:29 - ist das Bethaus Untere Viaduktgasse 11 in Wien III gesprengt.
10:30 - ist der Tempel Schmalzhofgasse 3 in Wien VI ausgebrannt.
10:39 - ist die Synagoge Hubergasse/Yppenplatz in Wien XVI zum Teil verbrannt.
11:02 - ist die Synagoge Siebenbrunnengasse 1a in Wien V komplett zerstört.
11:16 - ist der Tempel Große Schiffgasse 8 in Wien II völlig ausgebrannt, das Dach eingestürzt.
11:16 - ist das Bethaus Schüttaustrasse 45 in Wien XXII zerstört.
11:24 - ist der Tora-Schrein der Synagoge Kluckygasse 11 in Wien XX verbrannt.
11:40 - ist der Tempel Turnergasse 22 in Wien XV ausgebrannt.
11:50 - ist die Synagoge Neudeggergasse 12 in Wien VII ausgebrannt.
12:00 - wird die Synagoge Siebenbrunnengasse 1 in Wien V vollständig zertrümmert
12:20 - ist die Synagoge und jüdische Schule Malzgasse 16 in Wien II ausgebrannt.
12:35 - ist die Synagoge Schopenhauerstraße 39 in Wien XVIII ausgebrannt.
12:58 - ist die Inneneinrichtung des türkischen Tempels Zirkusgasse 22 in Wien II verbrannt;
ist das Bethaus Steingasse 18 in Wien III ausgebrannt.
13:00 (ca.) - werden in Wien II Gebetbücher und Tora-Rollen auf der Straße verbrannt.
13:10 - ist das Innere des Tempels Müllnergasse 8 in Wien IX verbrannt.
13:20 - ist die Inneneinrichtung des Bethauses Franz-Hochedlinger-Gasse 8 in Wien II verbrannt.
14:00 - begeht Abraham Ebel Selbstmord durch Erhängen.
15:20 - ist die Inneneinrichtung der Aufbahrungshalle am Zentralfriedhof, Tor I in Wien XI verbrannt.
17:00 - gibt Göbbels die Weisung: "die Judenaktion soll abgebrochen werden."
17:20 - telegrafiert Gauleiter Jury der SS Abschnitt XXXI: "Demonstrationen gegen Juden und jüdische Geschäfte und Häuser sind nicht zu unterbinden aber auch nicht zu organisieren."
17:25 - weist Heinrich Müller alle Staatspolizei(leit)stellen bezüglich 3000 der verhafteten Juden an:

  "...für rascheste Überführung in die Konzentrations Lager ist Sorge zu tragen."
18:00 - erreicht die Weisung, die Aktionen einzustellen die Schutzstaffel.

(aus: Die Gemeinde, Nr.581 Dezember 2005 Kislew 5766)