Das Projekt "Servitengasse 1938 - Schicksale der Verschwundenen" begann als Privatinitiative im Haus Servitengasse Nr. 6. Dort waren rund die Hälfte der Mieterinnen und Mieter jüdischer Herkunft. Der ursprüngliche Plan dieser Privatinitiative, zum Gedenken an die Opfer eine Tafel direkt am Haus Servitengasse 6 anzubringen, konnte leider nicht umgesetzt werden. Die Bezirksvorstehung Alsergrund, die das Projekt wohlwollend unterstütze, ermöglichte eine Gedenktafel auf öffentlichem Grund. Diese wurde am 20. September 2005 von Bezirksvorsteherin Martina Malyar im Beisein eines Überlebenden aus dem Haus - Paul Lichtman - feierlich enthüllt.
I would like to thank everyone who has helped in bringing my son and me here for the dedication of this special plaque. I am sorry my wife could not come because of medical reasons.
Thank you also to the Jewish Welcome Service of Vienna - Dr. Zelman - , the Green Party for it's donation, and to Barbara Kintaert and her friends for researching this building and it's old occupants of 1938. Without them, my son and I would not have been able to attend this dedication.
I would also like to thank the mayor of the 9th Bezirk Alsergrund, Mrs. Martina Malyar, for allowing this plaque to be placed on the sidewalk in front of Servitengasse 6.
You all have fulfilled my dream of returning to beautiful Wien and to show my son all of the landmarks of his father's heritage. May we all see peace in our time, and thank you from the botton of my heart.
Heute bin ich ein Wiener and I am proud of it!
Das Haus Servitengasse 6 gehört zu den stattlicheren in seiner Umgebung. Vormals stand an dieser Stelle ein Haus mit "radicierter Backgerechtigkeit". Seit dem 18. Jahrhundert - vielleicht auch schon früher - wurde in der Servitengasse 6 gebacken. Der Neubau von 1904 ist vierstöckig und weist im Häuserkataster von 1930 fünf Geschäftslokale und 23 Wohnungen auf. Für das Jahr 1938, das den Ausgangspunkt der historischen Recherchen bildet, lassen sich zwölf jüdische sowie neun nichtjüdische Wohnparteien nachweisen. Bei einem Wohnungsmieter bleibt ungeklärt, ob es sich hierbei um eine Person jüdischer Herkunft handelt.
Um die Jahrhundertwende waren rund ein Sechstel der Bevölkerung des 9. Wiener Gemeindebezirkes jüdisch. Die Zuwanderer im 9. kamen vorwiegend aus Böhmen, Polen und Süddeutschland. So ist auch die Zusammensetzung der jüdischen Bewohner des Hauses Servitengasse 6 als eine charakteristische zu bezeichnen: Teilweise stammen die Jüdinnen und Juden aus alteingesessenen Wiener Familien, teilweise waren die Bewohner des Hauses aber auch nach dem 1. Weltkrieg aus den ehemaligen Kronländern zugewandert.
Delogierungen
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gab es für das Mietshaus Servitengasse 6 offenbar großes Interesse, das Haus so bald wie möglich "judenrein" zu bekommen, wie es damals offiziell hieß. Nach dem Novemberpogrom von 1938 kam es bereits zu den ersten Wohnungsräumungen. Karl Krishaber, ein Fabrikant mit einer Hosenträgererzeugung in Osijekt/Jugoslawien, musste seine Wohnung am 10. November räumen und zog in ein Haus im 18. Bezirk, das zu diesem Zeitpunkt noch ihm und seiner Schwester gehörte. Dieses Haus wurde wenig später von den Nationalsozialisten enteignet. Einige Bewohner wurden noch etwas länger in ihren Wohnungen geduldet, mit Ende des Jahres 1939 waren jedoch - mit einer Ausnahme - alle Jüdinnen und Juden aus dem Haus vertrieben worden. Sie konnten entweder rechtzeitig ins Ausland fliehen oder wurden gezwungen, in Wohngemeinschaften bzw. Sammelwohnungen umzuziehen.
Mit dem Ehepaar Emil und Melanie Goldschmidt verließen im Oktober 1941 die letzten jüdischen Mieter das Haus Servitengasse 6. Der 83-jährige Ingenieur, bereits pflegebedürftig, musste mit seiner Frau in eine Sammelwohnung in den 10. Bezirk ziehen. Nur wenige Wochen später starb Melanie Goldschmidt, sie wurde im Dezember am Zentralfriedhof begraben. Emil Goldschmidt wurde knapp ein Jahr später nach Theresienstadt deportiert. Sein Transport trug die Nummer 40 und brachte am 10. September 1942 990 Personen in das als "Altersghetto" getarnte KZ. Vor seiner Deportation musste er ein letztes Mal sein Vermögen, das auf 38 Reichsmark geschrumpft war, einem Beamten gegenüber deklarieren, körperlich war er bereits so schwach, dass er als Unterschrift nur mehr drei Kreuze auf das Formular setzen konnte. Emil Goldschmidt starb am 19. Jänner 1944 in Theresienstadt.
Von den 1938 nachweisbaren in der Servitengasse 6 wohnenden 27 Jüdinnen und Juden konnten einige rechtzeitig das Land verlassen. Mit maximal zehn Reichsmark in der Tasche - soviel wurde einem von der Zentralstelle für jüdische Auswanderung zugestanden - flüchteten sie nach England, in die Schweiz oder in jene Länder, die ihnen noch Aufnahme gewährten. Neun Personen, die ehemals im Haus Servitengasse 6 gewohnt hatten, wurden deportiert und sind in den Konzentrationslagern von Nisko, Riga, Theresienstadt, Izbica und Jasenovac ermordet worden.
In die Servitengasse 6 zogen bereits ab 1939 neue Mieter ein, das Wiener Wohnungsamt hatte ihnen die "frei gewordenen" Wohnungen auf unbestimmte Zeit zugeteilt. Von den ehemaligen jüdischen BewohnerInnen, die im Ausland überlebt haben, ist keiner mehr an diese Adresse zurückgekehrt.